Sibel schlüpfte aus dem Haus und schloss vorsichtig die Tür hinter sich. Ihr Vater war erst spät vom Nachtmarkt zurückgekehrt. Der Lautstärke seines Schnarchens nach hatte er wieder zu viel Schnaps getrunken. Besser, sie weckte ihn nicht verfrüht.

Draussen war es noch kühl. Die Sonne hatte eben erst begonnen, das Firmament im Osten aufzuhellen. In ein paar Stunden brannte sie erbarmungslos auf die Wüstenstadt nieder und die morgendliche Kälte würde eine ferne Erinnerung sein.

Sibel griff nach dem irdenen Wassergefäss, das neben dem Hauseingang stand. Reichen Leuten wurde dieses jeden Morgen mit frischem Wasser gefüllt. Arme Familien wie Sibel mussten sich ihre tägliche Wasserration selbst holen.

Das Mädchen erledigte diese Aufgabe gerne am frühen Morgen. Sie mochte es, durch die noch schlafende Stadt zu spazieren. Nur wenig Volk war zu dieser Zeit auf den Beinen: Bäcker, die Fladenbrot herstellten, Prostituierte, die von der Nachtschicht zurückkehrten und der vereinzelte Marktbudenbesitzer, der zum Basar strebte.

Ein weiteres Detail, dass Sibel an den frühen Morgenstunden genoss, war die Stille. Die übliche Kakophonie fehlte. Es war, als ob die Stadt vor dem Tagesanbruch nochmals tief Atem holen würde.

Einzig der eine oder andere frühe Vogel machte sich mit seinem Morgenlied bemerkbar. Die anderen tierischen Bewohner der Wüstenstadt waren stimmlos: Echsen, die von der Grösse eines Salamanders bis zu der eines Karrens reichten, verständigten sich über für den Menschen nicht ermittelbare Pheromone und Veränderungen ihrer Hautfarbe. Neben den Echsen hatten die Bewohner auch riesige Mehrfüssler domestiziert. Im Spinnenviertel züchteten die Bewohner Spinnen in allen Formen, um deren Seide zu ernten. Und im Schlangenviertel wurden die als Fleischgrundlage dienenden Reptilien gezüchtet. Sibels Familie konnte sich kaum Fleisch leisten und musste sich mit einer pflanzenbasierten Kost begnügen.

Wie zum Zeichen grummelte der Magen des Mädchens laut. Das bohrende Hungergefühl ignorierend packte Sibel das Gefäss fester, als sie plötzlich ein seltsames Geräusch ausmachte. Es klang ähnlich wie der weinerliche Schrei eines Kindes.

Sibel verharrte und suchte die Häuserfront ab. Überall waren die Läden vor den Fenstern geschlossen. War es möglich, dass der Schrei aus einer der Behausungen ertönt war?

Sibel wollte ihren Weg wiederaufnehmen, als es erneut erklang. Dort, es drang aus einer Seitengasse! Ob dort ein verletztes Kind lag? Besorgt eilte Sibel zur Quelle des Geräusches. Eingegrenzt von hohen Hausmauern war es im schmalen Durchgang noch düster und Sibel brauchte eine Weile, bis sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnten.

Scherben zerbrochener Tongefässe knirschten unter ihren Sandalen, als sie weiter in die Gasse trat. Im Schatten bewegte sich etwas. Vorsichtig setzte das Mädchen ihr Wasserbehältnis ab und ging in die Knie. Ein Schaben auf Tonsplittern erklang.

In dem Moment, während dem Sibel realisierte, dass sie einen Fehler begangen hatte, schoss die Kobra bereits aus ihrem Versteck heraus. Den Schlund unnatürlich weit geöffnet, das Gift von den Fängen triefend, schnellte sie hervor. Sibel riss die Hand zurück, verlor dabei jedoch das Gleichgewicht und rutschte nach hinten weg. Mit rudernden Armen versuchte sie ihren Fall zu stoppen. Gleichzeitig zog sie die Beine an, um sie vor dem Biss der Schlange zu schützen. Scherben bohrten sich schmerzhaft in ihren Rücken, doch sie wusste, dass diese Pein nichts im Vergleich der durch einen Schlangenbiss ausgelösten Agonie war. Jeden Moment befürchtete sie die Fänge des Reptils zu spüren, als etwas Weiches ihre Wange streifte und an ihr vorbeischoss.

Schnell rappelte sie sich auf, doch sie kam nur bis in die Hocke. Mit offenem Mund starrte sie das seltsame Tierchen an, das sich schützend zwischen sie und die Schlange gestellt hatte. Es besass vier Beine wie die Echsen, doch dann hörte die Ähnlichkeit mit irgendeinem ihr bekannten Tier auf. Anstatt die ledrige Haut einer Echse oder die feucht schimmernde Schleimhaut eines Salamanders war dieses Wesen über und über mit Haaren bedeckt. Noch nie hatte Sibel ein solches Tier gesehen. Am Kopf standen zwei Fortsätze ab, die hin und her zuckten. Die Schnauze war spitz zulaufend. Scharfe Zähnchen blitzten unter den hochgezogenen Lefzen hervor.

Die Schlange schien ebenso verdutzt und hatte sich ein Stück zurückgezogen. Einen Herzschlag lang musterten sich die beiden Tiere. Plötzlich katapultierte sich das Reptil erneut nach vorne. Das seltsam haarige Tier war schneller. Mit kräftigen Hinterbeinen stiess es sich vom Boden ab. Es tauchte unter dem Schlangenkopf hindurch, riss sein Maul auf und verbiss sich hinter dem Schlangenkopf in deren Körper.

Als Sibels unerwarteter Beschützer geschmeidig auf dem Boden landete, war das Reptil bereits tot und hing ihm schlaff im Kiefer. Mit grossen Knopfaugen starrte es das Mädchen erwartungsvoll an. Die zwei Fortsätze am Kopf stellten sich von vorne als Ohren heraus. Ein buschiger Schwanz erhob sich hinter seinem Rücken und begann lustig hin und her zu wackeln.

Als es ein paar Schritte auf Sibel zutappte, wich das Mädchen ängstlich zurück. Das Tier verharrte und musterte sie mit intelligenten Augen. Dann liess es den schlaffen Schlangenkörper zu Boden gleiten und näherte sich weiter vorsichtig.

Dabei gab es wieder das seltsame Geräusch von sich. Sibel löste sich aus der Erstarrung. »Hast du mich gerufen?«, fragte sie heiser.

Das Tierchen kam näher und strich zuerst mit seinem Gesicht und dann mit seinem restlichen Körper an Sibels Beinen entlang. Dem Mädchen stockte der Atem, als das seidige Haar ihre Haut berührte. Noch nie hatte sie etwas so Weiches gespürt. Das Wesen bemerkte ihre Freude und setzte seine Liebkosungen enthusiastisch fort. Dabei gab es ein lustiges Brummen von sich. Vorsichtig hob Sibel die Hand und strich zaghaft über das weiche Haar. Dem Tier schien ihre Streicheleinheit ebenfalls zu gefallen. Lautstark forderte es mehr.

Kichernd gehorchte die Gerettete.

»Na du kleiner Krieger, willst du mein neuer Freund sein?«, fragte sie. Zur Antwort vergrub das Tier seinen flauschigen Kopf in ihren Händen.

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