Der Tod sass in einem Zimmer in der sechsten Etage des Krankenhauses und langweilte sich. Der unbequeme Plastikstuhl, den das Personal für Besucher hingestellt hatte, drückte ihm schon seit Stunden in den Rücken und das monotone Piepen der Beatmungsmaschine neben dem Bett machte ihn beinahe wahnsinnig. In Momenten wie diesen fragte er sich, weshalb er sich ausgerechnet für diesen Job entschieden hatte. Ein Grossteil seiner Arbeitszeit bestand aus Warten; warten auf den richtigen Moment, um einzugreifen, warten darauf, dass die Menschen – von irgendeiner Unachtsamkeit angetrieben – zu ihm kamen und er sie mitnehmen konnte. Er hätte ahnen müssen, dass heute wieder einer dieser Tage werden würde, an denen die Zeit nur quälend langsam verstreichen wollte. Seine Chefin war wie immer schlecht gelaunt gewesen und aus einem Grund, den der Tod nicht verstehen konnte, hatte sie ihren ganzen Frust an ihm ausgelassen und ihm diesen unspektakulären Auftrag aufgebrummt. Dabei wusste sie genau, wie sehr er Krankenhäuser hasste. Abgesehen von der Notaufnahme gab es selten viel zu tun. Ein paar Krebspatienten hier, ein paar altersschwache Greisen dort, aber nichts, was den Tod über längere Zeit beschäftigt hätte. Da waren ihm Verkehrsunfälle oder Grossbrände bedeutend lieber. Aber in diesem Gewerbe durfte man eben nicht wählerisch sein.

Das Mädchen, über das er wachte, war gerade mal sieben Jahre alt. Sie hatte blonde Haare und ein feines, puppenhaftes Gesicht, das von dem Beatmungsschlauch in ihrem Mund entstellt wurde. Ihre Arme waren mit Maschinen verkabelt, durch die Schmerzmittel und andere Medikamente in ihre Venen flossen, und ihre Fingerspitzen und Zehen waren dunkel angelaufen. Hirnhautentzündung. Das hatte der Tod in den Akten gelesen, die ihm seine Chefin heute Morgen überreicht hatte. An und für sich nichts Ungewöhnliches – wenn da nicht das Alter des Mädchens gewesen wäre. Er mochte es nicht, Kinder mitnehmen zu müssen. Sie waren stets so voller Leben, so voller Energie, dass es ihm jedes Mal aufs Neue schwer fiel, seine Arbeit korrekt auszuführen.

Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte.

Das Wort seiner Chefin war Gesetz und alles, was sie tat und befahl, musste genauso ausgeführt werden. Sie hatte diese und unzählige weitere Welten erschaffen und wenn es etwas gab, das sie mehr hasste als alles andere, war es, wenn jemand ihre Entscheidungen in Frage stellte. Sie existierte länger, als der Tod sich zurücksinnen konnte. Sie floss durch jedes Lebewesen, das sie je geformt hatte, war in jedem Wind, der über die Erde rauschte, in jedem Herzschlag; und sie besass eine Weisheit, dank der sie stets genau wusste, was zu tun war,

Dennoch kam der Tod nicht umhin, beim Anblick des kleinen Mädchens, das immer noch tapfer in seinem Krankenbett um jeden Atemzug kämpfte, Mitleid zu empfinden. Er wurde von den Menschen verachtet und gefürchtet. Es war etwas, an das er sich schon so lange gewöhnt hatte, dass es ihn nicht einmal mehr störte. Trotzdem war er längst nicht so kalt und gnadenlos, wie er stets beschrieben wurde. Er hatte durchaus Gefühle – auch wenn sie längst nicht so komplex waren wie jene der Menschen.

Nachdenklich spielte er mit den Würfeln in seiner Hand, die er als Zeitvertreib mitgenommen hatte. Er liess sie auf und ab springen und versuchte zu erraten, welche Zahlen sie als nächstes hervorbringen würden, doch es gelang ihm nur selten. Vermutlich war das etwas, wozu nur seine Chefin in Stande gewesen wäre – wenn sie denn den Zufall hätte kontrollieren können.

Dieser Gedanke liess ihn inne halten. Er sah zu dem Mädchen hinüber und spürte, wie ihn auf einmal eine ungewohnte Aufregung befiel. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht musste er seinen Auftrag nicht zu Ende bringen. Er wusste, dass er nicht die Macht hatte, darüber zu urteilen. Doch wenn der Zufall entschied, würde sich ihm nicht einmal seine Chefin widersetzen können.

Der Tod sprang von seinem Stuhl auf, die Würfel fest im Griff. Er zitterte regelrecht bei der Vorstellung daran, was er gleich tun würde. Es war verrückt. Es verstiess gegen alle Regeln seiner Zunft. Aber er war sich sicher, dass es das einzig Richtige war.

Er warf die Würfel. Unruhig und mit spürbarer Nervosität beobachtete er, wie sie über den Boden rollten. Der Plan war simpel: Wenn sie die Zahlen anzeigten, die er sich im Kopf ausgedacht hatte, würde er das Mädchen in Ruhe lassen. Er würde seinen Auftrag in den Wind schiessen und ihr das Leben schenken, das sie verdient hatte.

Der Tod kniete sich hin, um unter das Bett zu spähen, unter das die Würfel gerollt waren. Als er sie entdeckte, hielt er inne. Wollte er wirklich wissen, was sie entschieden hatte? Doch es war bereits zu spät, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Achtsam zog er sie hervor und las die Zahlen auf dem weissen Hintergrund ab. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Über das Krankenzimmer legte sich eine beruhigende Stille.

Die Würfel waren gefallen.