Der Junge lehnte sich gegen die Reling und folgte dem Blick des Mannes neben ihm in Richtung der Docks.
»Mister Rotch, Sir«, sagte er kleinlaut. »Worauf warten wir?«
Der Mann atmete schwer aus. »Darauf, dass es eskaliert, Timmy.«
»Eskaliert?« Der Junge drehte das Wort auf seiner Zunge hin und her. Er kannte es und wusste, dass es nichts Gutes verhieß. »Warum gehen wir nicht einfach?«
Er wies auf die aufgerollten Segel.
Rotch seufzte. »Das habe ich euch erklärt. Gouverneur Hutchinson verbietet es der Dartmouth und unseren anderen Schiffen, Boston zu verlassen, bevor wir die Importzölle bezahlen.«
Der Junge beobachtete wieder die Docks. Er konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Es waren nicht viele Leute unterwegs, immerhin war es ein Dezemberabend und arschkalt.
Er schwieg, auch wenn er nicht verstand, was der Kapitän ihm sagen wollte. Sie ankerten schon seit drei Wochen hier, die Ladung immer noch an Bord, und Rotch hatte sie bisher noch nie angewiesen, auf den Schiffen Wache zu schieben.
»Das Ultimatum, Timmy«, erklärte Rotch. »Es läuft heute Abend aus.«
»Oh.«
So viel verstand er. Sie hätten bis heute Abend zahlen sollen und hatten es nicht getan. Und nun würde etwas eskalieren. Doch was?
»Ist die Ladung denn so wertvoll? Warum verkaufen wir sie nicht einfach und zahlen die Zölle?«, fragte er.
Rotch lachte leise. »So einfach ist das nicht. Hier ist Politik im Spiel. Wir sind nur ein Spielball zwischen dem alten England und dem neuen. Die Zölle. Die Ladung. Darum geht es gar nicht.«
Timmy wollte etwas erwidern, als auf einmal Geheul in der Ferne losbrach. Erschrocken machte er einen Schritt von der Reling weg. Rotch legte eine Hand auf seinen Rücken und schob ihn zurück.
»Was ist das?«, fragte Timmy.
»Samual Adams und seine Meute«, erklärte Rotch ruhig. Nun blickte er Timmy zum ersten Mal direkt an, seit er vor einigen Stunden die Dartmouth betreten hatte. »Wir werden nicht weichen. Die Bastarde können kommen und ihr Schlimmstes tun. Wir unterstehen der britischen Krone und werden uns nicht einschüchtern lassen. Wir stehen unseren Mann!«
Nervös wandte Timmy sich um und suchte im spärlichen Licht nach dem Rest der Besatzung. Auch sie standen mit gebannten Blicken an der Reling.
Das Geheul schwoll an und zwischen den Häuserreihen schimmerte das unruhige Flackern von Feuer.
»Sir«, keuchte Timmy und machte instinktiv wieder einen Schritt zurück. Doch die gnadenlose Hand schob ihn erneut nach vorn.
»Was immer geschieht«, knurrte Rotch. »Wir weichen nicht.«
Timmy schluckte schwer und umklammerte die Reling.
Dann erschienen die ersten Leute am Hafen. Zuhauf strömten sie aus den Gassen, in den Händen Fackeln und auf den Lippen ein Gebrüll wie von wilden Tieren. Im Durcheinander erkannte Timmy, dass die Männer sich Federn an die Hüte gesteckt hatten und sich die Gesichter farbig bemalt hatten wie die Indianer.
Auf den Schiffen, die neben der Dartmouth vor Anker lagen, kam Bewegung an Deck. Auch dort hatte die Crew gewartet und ihnen fuhr der Aufzug ebenfalls durch Mark und Bein. Erst als die Meute die Docks erreichte, erkannte Timmy, dass es sich dabei nur um etwas fünfzig Männer handelte. Alles andere waren Mitläufer und Zuschauer, die am Hafen stehen blieben, in ihre dicken Mäntel gehüllt und neugierig gaffend. Dann hatte der Pulk die Eleanor erreicht und ein Teil ging an Bord. Keiner der Matrosen hielt sie auf und der Kapitän des Schiffes gab keinerlei Befehl zur Gegenwehr. Timmy konnte nicht mehr erkennen, denn da hatten die restlichen Männer bereits die Dartmouth erreicht.
Mit Gegröle und Gejaule stürmten sie an Bord. Rotch hatte sich zu ihnen umgedreht, wich aber nicht von der Stelle. Ein Mann gekleidet in einen roten Gehrock und mit einer weissen Perücke trat auf ihn zu. Auch er trug Federn an dem Hut.
»Captain Francis Rotch«, sagte er mit viel Gewicht in der Stimme.
»Mister Adams«, erwiderte Rotch gelassen.
»Ich muss Sie darauf hinweisen, dass das Ultimatum, welches ihnen vom Governeur gesetzt wurde, verstrichen ist und Sie es versäumten, die ausstehenden Zölle zu bezahlen.«
»Sie müssen mich auf gar nichts hinweisen. Sie sind auch nicht in der Position, als Vollstrecker des Governeurs zu handeln. Was Sie hier tun ist einzig und allein auf Sie und Ihren Freund Herrn Hancock zurückzuführen.«
Ein leises Lächeln umspielte Adams Lippen. Hinter ihnen waren die Männer bereits in die Lagerräume vorgedrungen. Keiner der Matrosen unternahm etwas dagegen. Der erste Mann hatte eine Kiste geschultert und trat neben ihnen an die Reling.
Timmy spürte die Wut in ihm hochkochen. Ja, er war nur ein Schiffsjunge und die Männer mit der Kriegsbemalung machten ihm angst. Aber was sie hier taten, war pures Unrecht.
»Das ist nicht fair!«, schrie er und die Männer wandten sich ihm überrascht zu.
Timmy fasste den Mann mit der Kiste am Ärmel und wollte ihn davon abhalten, doch dieser streifte ihn mit einer beiläufigen Handbewegung von sich und katapultierte die Kiste ins Meer.
»Für Amerika!«, rief der Mann und stieß triumphierend die Fäuste in die Luft.
»Timmy«, bellte Rotch und fasste ihn grob an der Schulter.
»Das ist nicht fair«, wiederholte Timmy. »Wir waren so lange unterwegs! Wir wollen doch die Ware verkaufen!«
Tränen stachen ihm in die Augen.
Adams ging vor ihm in die Knie, damit sie sich auf Augenhöhe gegenübersahen.
»Nein, Junge. Es ist nicht fair. Genauso wenig wie die britische Kolonialpolitik oder die Korruption der East India Company.«
Er erhob sich und half seinen Leuten dabei, Kiste um Kiste im Hafenbecken von Boston zu versenken. Nach und nach erfüllte der Geruch von frisch aufgeweichten Teeblättern die Luft.
Die mehrstündige Aktion lockte tausende von Zuschauern an, doch sie standen nur gesittet im Hafen und beobachteten das Treiben. Auch an Bord wurde es ruhiger, als klar war, dass keine Partei die Hand gegen die andere erhob. Es wurde geflucht, aber niemand wendete Gewalt auf.
Als alles vorbei war, wandte sich Adams noch einmal an Timmy.
»Irgendwann wirst du verstehen, weshalb dies nötig war.« Er ließ den Blick über den Hafen von Boston schweifen. »Es geht vielmehr als nur drei Ladungen von Tee.«